Bis zu 30 000 Menschen werden bis Ende dieses Jahres den Tod auf dem Mittelmeer gefunden haben, schätzen internationale Organisationen. Die WOZ hat Menschen in der Schweiz getroffen, die Glück hatten und die Reise übers Mittelmeer überlebten. In vier Testimonials berichten die Männer von ihrer Flucht, ihrer Angst, von den Zuständen auf den Schiffen und von der Ankunft in Europa und der Schweiz.
«Wir waren erst drei Stunden unterwegs, als es auf unserer Überfahrt zu einem schlimmen Zwischenfall kam: Die beiden Ghanaer, die von den Schleppern als Kapitäne eingesetzt worden waren, fielen ins Wasser und starben. Sie hatten vor der Abfahrt in Libyen um ein Uhr nachts viel getrunken und waren dann total besoffen losgefahren. Unser kleines Boot war mit ungefähr achtzig Personen hoffnungslos überfüllt. Und plötzlich trieben wir führerlos im Meer. Ein Mann aus Libyen hat zum Glück das Kommando übernommen. Er war dazu nicht speziell befähigt, glaube ich, also kein wirklicher Kapitän. Aber irgendjemand musste ja einspringen.
Die meisten Bootsinsassen waren in Panik geraten. Angst hatten sie ja ohnehin schon beim Ablegen gehabt. Und nun waren wir in dieser Notsituation. Einige Männer, unter anderem auch ich, halfen abwechslungsweise, das Boot auf Kurs zu halten. Aber wir hatten keine Ahnung, was wir taten, und hofften einfach, dass uns der Kompass die richtige Richtung anzeigt. Unser Ziel war das italienische Hoheitsgebiet. Mehr als einen ganzen Tag waren wir so unterwegs – von morgens um vier bis am Mittag des nächsten Tages. In einer solchen Situation liegen Hoffnung und Verzweiflung extrem nahe beieinander. Du willst es einerseits unbedingt schaffen und fühlst dich andererseits so verloren mitten im Meer.
Als wir uns tatsächlich Italien näherten, haben wir die Küstenwache angerufen, um ein Uhr nachmittags. Vier Stunden später schleppte uns ein Schiff nach Sizilien. Wenn ich heute an meine Flucht zurückdenke, kann ich kaum glauben, dass ich das überlebt habe. Ich bin heute 33 Jahre alt. Vor neun Jahren habe ich ein zweites Leben geschenkt bekommen.»
«Ich bin heute 42 Jahre alt und seit zehn Jahren in der Schweiz. Meine Situation ist schwierig. Bislang habe ich keine Arbeit gefunden, obwohl ich als Flüchtling anerkannt bin, Deutsch lerne und viele Bewerbungen schreibe. Aber ich gebe nicht auf, denn es gibt kein Zurück mehr.
Ich bin aus einem Land südlich der Sahara geflohen. Die Flucht durch die Wüste war mindestens so gefährlich wie die Fahrt übers Meer. Meine genaue Herkunft will ich nicht verraten, weil ich Angst habe, dass ich erkannt werde. Wer wie ich aus Afrika flieht, sucht nur eines: Freiheit. Ich habe mir gesagt: Lieber auf dem Weg sterben als in Angst und Armut leben.
Wir legten an einem Mittwochnachmittag in Libyen ab, 42 Menschen auf einem sechs Meter langen Kahn. Die Stimmung wechselte während der Überfahrt so oft wie das Wetter. Mal haben wir geweint, dann wieder gehofft und oft auch gestritten. Zu trinken hatten wir nur zwei Flaschen Milch. Unser Brot wurde vom Meerwasser aufgeweicht, es war ungeniessbar. Immer wieder schwappte Wasser in unser Boot. Zweimal fiel der Motor aus. Eine schwangere Frau bekam auf offenem Meer starke Blutungen. Ich weiss nicht, ob sie ihr Kind verloren hat.
An einem Freitagmorgen sind wir irgendwo in Italien gelandet. Wir haben es selber ans Ufer geschafft. Ich und zwei Freunde sind mit dem Linienbus weiter, erst nach Frankreich, dann weiter in die Schweiz. Die Überfahrt war beängstigend gewesen. Aber in Libyen fürchtete ich mich noch viel mehr. Ich war zwei Jahre dort und wurde immer wieder angegriffen. Das Land ist eine Hölle, aus der Europa unbedingt alle Flüchtlinge befreien muss.»
«Auf meiner Flucht habe ich alles gesehen, was ich im Geografieunterricht gelernt hatte. Ich kletterte auf die Dünen der Sahara, der feine, warme Wüstensand rieselte durch meine Zehen. Ich sah die grossen schwarzen Wüstensteine. Immer wieder begegneten uns auch Wüstenbewohner, vielleicht waren es Tuareg. Sie weideten ihre Tiere, und manchmal grüssten sie uns. Aber wir waren ja keine gewöhnlichen Durchreisenden, die auch mal einen Augenblick hätten verweilen können. Ich hätte gerne mehr Zeit gehabt, um all das auf mich wirken zu lassen. So wie die Touristen auf ihren Wüstenexpeditionen.
Wir Eritreer flüchten alle über die gleiche Route: erst in den Sudan, um Geld für die Überfahrt zu verdienen, dann weiter nach Libyen und von dort übers Mittelmeer. Es ist reine Glückssache, wer die Reise überlebt. Wie gesund oder stark du bist, spielt keine Rolle. Ich habe viele Freunde auf dem Meer verloren. Und trotzdem besteigst du dieses überfüllte Plastikboot. Denn es ist deine einzige Chance.
Das Meer ist gigantisch. Wenn du hinausfährst, erwartest du Riesenwellen, Haie, extreme Temperaturen. Unsere Überfahrt dauerte drei Tage. In der Nacht hatten wir grössere Angst als tags. In der Nacht sind die Wellen höher, und die Dunkelheit ist bedrohlich. Sobald die Sonne wieder scheint und das Meer sich beruhigt, bist du wieder hoffnungsvoll. Dann siehst du plötzlich ein Schiff und hoffst noch mehr. Doch insgesamt vier Cargo- und Passagierschiffe halfen nicht, sie drehten einfach ab. Irgendwann wurden wir dann nach Sizilien abgeschleppt.
Heute schaue ich manchmal den kleinen Booten auf dem Zürichsee zu und denke mir: Wahnsinn, dass wir mit so einem Ding übers Meer gefahren sind. Ich lebe nun seit neun Jahren in der Schweiz und betreibe ein Restaurant. Die Flucht hat sich gelohnt.»
«Auf Lampedusa kamen wir in ein Auffanglager mit 600 oder 700 Personen. Mit einigen Mitflüchtlingen machte ich mich nach zwei Tagen aus dem Lager davon. Für unsere Fingerabdrücke interessierte sich keiner: Die Italiener waren schon damals, im Jahr 2008, völlig überfordert.
Allein auf unserem Schiff befanden sich 352 Personen. Es war etwa sechzehn Meter lang, also noch kleiner als jener Kahn, der 2013 vor Lampedusa mit rund 300 Personen gesunken ist. Auf einem solchen Schiff setzt du dich so hin, dass der Vordermann zwischen deinen Beinen Platz findet. In dieser Position musst du auch schlafen. Manchmal konnte man dazu aber auch kurz in den Maschinenraum gehen. Zum Glück hatte unser Schiff einen starken Motor, der die ganze Zeit funktionierte. Doch hatten wir nichts zu trinken und zu essen. Unsere Schlepper nahmen uns gleich beim Ablegen alles ab: Es gebe auf dem Boot keinen Platz für Proviant. Wenn du fast umkommst vor Durst, schreckt dich das Salz irgendwann nicht mehr ab. Wir schöpften mit der Hand Meerwasser und tranken es. Der Durst verschlimmerte sich dadurch nur noch. Nach vier Tagen griff uns vor Lampedusa die Küstenwache auf.
Mein Ziel war von Anfang an die Schweiz. Ich bin froh, dass ich es hierher geschafft habe, denn nochmals würde ich die Flucht aus Eritrea nicht wagen. Jetzt, wo ich alle Strapazen kenne. Aufgebrochen bin ich in der Heimat mit acht Freunden. Doch auf der Flucht verlierst du dich aus den Augen: Der eine hat Geld für die Überfahrt, der andere nicht. Ich habe im Sudan lange gearbeitet, bis ich mir die Reise leisten konnte.»